Flamenco und Tango Argentino.
Das ist zwei Mal verliebt sein für mich. Das sind zwei Blicke in so verschiedene Wesen, zwei Arten, meinem Körper in der Bewegung Raum zu lassen und der Musik eine Körperlichkeit zu geben. Das sind zwei so verschiedene Seelen, die doch so verbrüdert sind in ihrer Komplexität, in ihrer Tiefgründigkeit, in ihrer Art, das Leben zu sehen. Beide können meine Seele über den Weg des Körpers so sehr bloßstellen, können gemein sein und verletzend. Aber sie können auch die ganze Schönheit der Welt in sich versammeln. Sie sind sich bei aller Unterschiedlichkeit vielleicht näher als jede andere Art von Tanz, sind trotz ihrer so eigenständigen Charaktere irgendwie doch fast wie Zwillinge.
Tango ist, was Flamenco nicht sein kann und Flamenco ist, was Tango nicht sein kann. Gemeinsam finden sie ihre Vollkommenheit.
Tango ist Traurigkeit, ist Begehren, ist Aggression, ist Offenbaren, ist Schönheit und Sinnlichkeit. Dasselbe könnte man über Flamenco auch sagen. Aber es reicht nicht. Es ist so viel mehr. Es ist alles. Tango ist alles, Flamenco ist alles. Beide haben die Fähigkeit, den Spuren in innere Welten zu folgen, sie sind in gewisser Weise Seeleneindringlinge, die das Innerste aufwühlen, nach außen stülpen, zurück nach innen verbannen.
Flamenco und Tango sind eine Suche. Vielleicht ohne Finden. Vielleicht geht es auch letztlich nur darum, zu suchen - nach der Erfüllung aller Sehnsüchte. Nach dem Schaffen neuer Sehnsüchte. Die jeder kennt, die jeder hat. Und auf deren Spuren man sich begeben sollte, jeden Tag.
Flamenco gibt mir Mut. Mut, um den Dingen ihre Offensichtlichkeit zu geben, um offensichtlich Bewegung spürbar zu machen, um Impulse nach außen zu transportieren, ihnen ihren Raum zu geben, zu veräußerlichen, was innerlich schreit. Flamenco ist ein lauter Atemzug, der von den Fersen bis in die letzte Haarwurzel strömt und dabei alle Energie, die er dabei aufsaugt, komprimiert und in Bewegung verwandelt. Vielleicht ist Flamenco mutiger als Tango. Vielleicht ist er auch einfach selbstsüchtiger, was die Darstellung von großen Gefühlen angeht. Er gibt dem Schmerz seine ganze Berechtigung, lässt Aggression weh tun, Verzweiflung hörbar werden, lässt Freude und Enttäuschung in unendlichen Mellismen durch den Raum strömen. Traurigkeit wird noch dunkler, Glück wird noch brennender, Lust wird noch sehnsüchtiger, Sehnsucht wird noch bitterer.
Tango ist in dieser Hinsicht vielleicht subtiler, reflektierter, verinnerlichter. Tango ist ehrlich. So schmerzlich ehrlich. Der Körper kann sich nicht davor verstecken. Auf einmal liegen alle Sehnsüchte und Traurigkeiten, all das Glücklichsein und Wollen, all das Lieben und Begehren, all die Angst und Verletzbarkeit vor mir....und ich kann nur eines tun: Sie mit in den Tanz nehmen. Sie mittanzen lassen. Um danach trauriger oder glücklicher zu sein.
Ein Aneinenanderlehnen, das Berühren von zwei Händen, die Nähe von zwei Wangenknochen, ein streifendes Bein, ein Atemzug kann mehr Verlangen auslösen, als jede Form von direkter Körperlichkeit. Tango ist getanzte Sinnlichkeit. Sinnlichkeit ist Seele. Und Tango kann in die Seele blicken. Sie offenlegen.
Natürlich ist es auch ein sehr großer Unterschied, ob man alleine tanzt wie im Flamenco oder mit einem Partner wie im Tango.
Im Flamenco teilt man die Empfindungen meistens nur mit sich selbst, mit dem eigenen Körper. Kein Gegenüber, keine andere Haut, kein anderer Atem, der mit einem den Rhythmus einatmet. Und wieder ausatmet. Der Partner im Flamenco, der Spiegel ist der Cante, die Gitarre. Und der Compas. Der einem alles vorgibt, auf den man reagieren und achten muss, so wie er auf einen selbst achtet. Die Musik gibt einem vor, wer man zu sein hat, jetzt. Und man kann ihr antworten, was man daraus macht. Oder nicht. Cante und Compas werden zum Partner, der einen durch die Bewegungen führt, der einen trägt.
Im Tango hat man immer einen Spiegel. Der Partner, auf den man reagieren, mit dem man interagieren, dessen Haut man spüren muss, dessen Bewegung zur eigenen Bewegung wird. Ein Geben und ein Geben und ein Nehmen und ein Nehmen. Das heißt auch immer ein Versinken im anderen, man muss ein Stück Seele abgeben, einen Teil von sich selbst offenbaren und in eine andere Seele hineinsehen, begehren, loslassen, verletzbar sein.
Tango führt direkt dorthin, wo das sitzt, was man vor sich selbst verstecken will. Entkommen kann man nicht. Man hat nur eine Wahl: sich einzulassen. Oder es nicht zu tun. Aber wenn man einmal mitgeht mit ihm, kann man nicht zurück. Tango ist wie ein guter Liebhaber, von dem man nicht genug bekommt, weil er einem alles gibt, was man sucht. Feinheit und Härte, Kompromisslosigkeit und Zärtlichkeit, Sinnlichkeit und Sex, Entziehen und Entgegenkommen, Glück und Sehnsucht. Und schließlich führt Tango auch immer dorthin, wo er am Ende auf den Flamenco trifft: in die Tiefen der Seele.
(Dieser Artikel erscheint auch in der Ausgabe der ANDA 98.)